Vor 80 Jahren, Anfang Juli 1938, trafen sich Vertreter von 32 Staaten und 24 Hilfsorganisationen um zu beraten, wie mit der steigenden Anzahl jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich umgegangen werden soll.
Diese Konferenz von Évian endete jedoch ohne Ergebnis, und die Chance zehntausende Juden vor der Vernichtung durch die Nazis zu retten blieb ungenutzt. Im Rückblick wird dieses Scheitern als große Schande der westlichen Welt gesehen. Eine der Konsequenzen war der Beschluss der „Genfer Flüchtlingskonvention“. Vereinbart 1951 und erweitert 1967, regelt sie, wie Staaten mit Flüchtenden aus anderen Staaten umzugehen haben, und in ihr sind auch die Rechte und Pflichten der Flüchtenden definiert.
Eine zweite wichtige Vereinbarung ist die „Europäische Menschenrechtskonvention“. Sie ist seit 1958 Teil der österreichischen Verfassung und wurde von allen 47 Mitgliedsländern des Europarats beschlossen.
Zwischen 1650 und 1800 gab es grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft. Tradition, Adel und Religion bestimmten nicht mehr allein den Alltag der Menschen, stattdessen gewannen individuelle Freiheit, Bürgerrechte und Wissenschaft an Bedeutung. Man spricht darüber als „Tradition der Aufklärung“.
Diese gesellschaftliche Entwicklung und die beiden Konventionen bilden die Grundlage dessen, was man heute mit „Europäischen Werten“ meint. Die Gleichheit und die Gleichberechtigung aller Menschen, Demokratie, Humanität und der Vorrang der Wissenschaft vor der Religion sind die Basis auf der die Gesellschaften und Staaten in Europa entstanden sind.
Die europäischen Werte werden in jüngster Zeit auch oft herangezogen, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, dass Zuwanderer und nach Europa Geflüchtete, sich „an unsere Kultur anpassen sollen“.
Genau jene politische Gruppen, die die europäischen Werte am häufigsten beschwören, nehmen aber in der Praxis keine Rücksicht auf deren Einhaltung.
Von Sebastian Kurz wird derzeit unverholen die Flüchtlingskonvention in Frage gestellt, indem er Flüchtenden das Recht verweigern will an den europäischen Grenzen um Asyl anzusuchen. ÖVP und FPÖ versuchen die Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 zu nutzen, um ihre eigenen fremdenfeindlichen Ziele auf europäischer Ebene durchzusetzen.
Statt als Vorsitzland die Einheit Europas zu stärken und ausgleichend zu wirken, werden die Differenzen innerhalb der EU geschürt.
Auffanglager ausserhalb der EU oder ausserhalb Europas sollen Flüchtende fernhalten und ohne Rücksicht auf Menschenrechte und Flüchtlingskonventionen jede Möglichkeit verhindern, dass diese um Asyl ansuchen können.
In kaum zu überbietendem Zynismus soll es lediglich Asyl für Flüchtende geben, „die europäische Werte und die in der EU geltenden Grund- und Freiheitsrechte respektieren“. Jeder anständige Mensch und Politiker würde vor Scham im Boden versinken, bevor er derartig dreist die Werte verrät, die er gleichzeitig scheinheilig vor sich herträgt.
Die ÖVP ist immer dabei wenn, völlig zurecht, der große Wert von Ehrenamtlichkeit und Freiwilligenarbeit betont wird. Im Widerspruch dazu betreiben die Regierung Kurz und ihre Freunde in anderen europäischen Ländern in den letzten Wochen eine Politik, die Freiwilligen- und Hilfsorganisationen kriminalisiert. Es ist von „NGO-Wahnsinn“ die Rede. Schiffe und Suchflugzeuge, die im Meer nach Booten in Seenot Ausschau halten, werden am Auslaufen bzw. Starten gehindert.
Seit Jahresbeginn sind rund 1500 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Statt alles zu unternehmen, um möglichst vielen Menschen das Leben zu retten, werden die freiwilligen Helfer-Innen behindert und bedroht.
Man stelle sich zum Vergleich vor, Einsatzkräften der Feuerwehr oder des Roten Kreuzes würde verboten, Brände zu löschen, Unfallopfern zu helfen oder Verunglückte aus den Bergen zu retten. Mehr noch, den Kommandanten der Feuerwehr würde man auch noch unterstellen, sie wären Teil einer kriminellen Organisation.
Unvorstellbar? Leider nicht! Genau das passiert den Organisationen die Rettungsschiffe auf das Mittelmeer ausschicken wollen. Die Schiffe werden beschlagnahmt, die Kapitäne verhaftet und wegen Schlepperei angeklagt. Das Retten von Menschenleben ist immer schon eine Selbstverständlichkeit im internationalen Seerecht gewesen, und jetzt soll es strafbar sein? Es wird ernsthaft darüber diskutiert Menschen sterben zu lassen, um andere „abzuschrecken“?
Es geht nicht darum, unbegrenzt Menschen nach Europa zu holen, aber jeder muss das Recht auf ein faires Verfahren haben, um seine Fluchtgründe zu prüfen.
Niemand darf ohne Einzelprüfung abgeschoben werden. Auch nicht in sogenannte „sichere Drittländer“, wenn dort die Gefahr weiterer Abschiebungen besteht oder kein faires Verfahren sichergestellt ist. Fast alles, was derzeit an Ideen diskutiert wird, widerspricht der Flüchtlingskonvention!
Wenn man Hunderte Tote pro Monat bewusst in Kauf nimmt, um eine politische Botschaft zu senden, hat man keinen Anspruch mehr, sich auf irgendwelche Werte zu berufen, außer vielleicht auf das Recht des Stärkeren.
Links zum Thema:
Mit Abstand betrachtet: Europas Flucht vor der Realität
https://tinyurl.com/zeit-grenzschutz
Weg in die Barbarei: Der Untergang
https://tinyurl.com/untergang-85837
Unterstützenswerte NGO: Sea-Watch e.V.
https://sea-watch.org/
(Dieser Kommentar ist auch in Brennessel 2/2018 der Grünen Engerwitzdorf erschienen)